Sa. Mai 18th, 2024

 

Scan_20151222Eigentlich hätten dieses Buch jene Ostblock-Journalisten schreiben müssen, die, wie auch ich, damals hautnah beim Interkosmos-Programm (1967-1990) dabei waren. Doch die krankhafte Geheimniskrämerei im „sozialistischen Lager“, die vielen Tabus und, ja, auch vorauseilender Gehorsam haben das verhindert.

Insofern ist es verdienstvoll, dass dies jetzt zwei Sleuths, wie die westlichen Weltraum-„Spürhunde“ in der Zeit des Kalten Krieges genannt wurden, spät, aber doch nicht zu spät nachgeholt und damit eine Lücke in der Geschichte der Sowjetraumfahrt geschlossen haben. Sehr honorig ist auch, dass der Australier Colin Burgess und der Niederländer Bert Vis ihr Buch den Doubles der neun Interkosmonauten gewidmet haben, die stets ein Schattendasein fristeten und keine Hoffnung hatten, auch einmal an die Reihe zu kommen. Denn von Anfang an stand fest, dass es bei dem einen Flug pro Land bleiben würde.

Dass Bulgarien heute zwei Kosmonauten hat, ist dem Umstand geschuldet, dass der erste, Georgi Iwanow, und sein sowjetischer Kommandant Nikolai Rukawischnikow wegen einer technischen Panne an ihrem Raumschiff Sojus 33 1979 nicht an die Raumstation Salut 6 andocken konnten. Dadurch erhielt das Land eine zweite Chance, und Iwanows Double Alexandr Alexandrow konnte im Juni 1988 mit seinem sowjetischen Kollegen Anatoli Solowjow für eine Woche zur Raumstation MIR fliegen.

Burgess und Vis geben auf rund 330 Seiten einen sehr detaillierten Überblick über das unbemannte und bemannte Interkosmos-Programm, mit dem die Sowjets ihre „Bruderländer“ CSSR, Polen, DDR, Bulgarien, Ungarn, Vietnam, Kuba, die Mongolei und Rumänien in ihre Weltraumaktivitäten einbanden und dabei gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlugen: Sie sicherten sich kostenlos die wissenschaftlichen Beiträge dieser Länder, während sie selbst die Ausbildung der Kosmonauten, das Raumschiff und die Startdienstleistungen beisteuerten, und konnten zudem kräftig die Propagandatrommel für die angebliche Überlegenheit ihres Systems rühren.

Zudem hat das Autoren-Duo auch eingehend die Flüge sowjetischer Kosmonauten mit Raumfahrern aus den westlichen Vorzugspartnerländern Moskaus – Indien, Syrien, Afghanistan und Frankreich – geschildert, die den Interkosmonauten folgten. Selbst ein ausführlicher Rückblick auf die philatelistische Widerspiegelung des Interkosmos-Programms, für den James Reichman verantwortlich zeichnet, fehlt nicht.

Burgess und Vis kam der lange Zeitabstand seit dem Ende des Programms insofern entgegen, als inzwischen nahezu alle einst geheimen Quellen zugänglich sind und sich auch viele Akteure mit großer Offenheit erst jüngst zum damaligen Geschehen geäußert haben. Dadurch sind die sehr ausführlichen Biografien und Interviews hochaktuell und lassen so manche althergebrachte Information oder Vermutung in neuem Licht erscheinen. So erfährt der Leser zum Beispiel von Miroslaw Hermaszewski (Polen), dass angeblich er und nicht der Tschechoslowake Vladimir Remek der erste Nicht-Russe und Nicht-Amerikaner im All sein sollte. Das sei aber durch eine überflüssige Mandeloperation, zu der man ihn im Frühjahr 1978 in Moskau gezwungen habe, torpediert worden. Dadurch sei er nicht schon im März wie Remek, sondern als Zweiter erst im Juni geflogen, behauptete Hermaszewski in einem Dokumentarfilm von 2009. Ob die Autoren das glauben, wird nicht deutlich. Aber immerhin zeigen sie Hermaszewski und nicht Remek auf der Titelseite ihres Buches.

Wer das Protokoll von der Moskauer Interkosmos-Tagung vom 14. – 16. Juli 1976 gelesen hat, weiß, dass damals die CSSR den Anfang machen sollte, gefolgt von der DDR. Zur Begründung hieß es, damit trage man der Tatsache Rechnung, dass diese Länder den größten Beitrag zum Interkosmos-Programm geleistet haben. Dagegen hatte der polnische Delegierte Einspruch erhoben. Schließlich rückte sein Land dann immerhin an die zweite Stelle hinter der CSSR und vor der DDR. Ein offizielle Stellungnahme aus Moskau zu der Hermaszewski-Behauptung gibt es bislang nicht.

Im Kapitel zum Flug von Sigmund Jähn (26. 8. – 3. 9 1978), der die DDR zum 5. Land der Welt mit einem Raumfahrer und ihn selbst zum 90. Menschen in All machte, befassen sich Burgess und Vis auch intensiv mit dem Auswahlprozess. Dabei kommen einige Einzelheiten und Namen zur Sprache, die selbst für Kenner der Materie neu sein dürften. So seien „mehrere Hundert“ potenzielle Kandidaten zu Gesprächen ins Verteidigungsministerium eingeladen worden, von denen schließlich 30 in die engere Wahl gekommen seien. Im weiteren Verlauf habe sich diese Zahl zuerst auf 16 und dann auf 9 verringert, die auch namentlich unter Berufung auf eine polnische (!) Quelle aufgeführt werden.

Daraus wurden dann vier Kandidaten herausgefiltert: Rolf Berger, Eberhard Golbs, Sigmund Jähn und Eberhard Köllner. Die sowjetische Seite, die das allerletzte Wort hatte, entschied schließlich, dass Jähn und Köllner im Dezember 1976 das Training im Kosmonauten-Ausbildungszentrum (ZPK) „Juri Gagarin“ im „Sternenstädtchen“ bei Moskau aufnehmen sollten. Damit war auch Rolf Berger durchgefallen, den die DDR-Führung gern als ersten DDR-Bürger im All gesehen hätte, wie wir erst viel später erfuhren. An seiner Stelle flog dann Sigmund Jähn, während Köllner die undankbare Rolle als Double blieb. Er hat diese Entscheidung aber im Gegensatz zu anderen mit Anstand und Würde akzeptiert.

Unerklärlich ist mir, dass die an sich so gründlichen Autoren des Buches die Sojus-Landekapsel von Sigmund Jähn noch immer im Deutschen Museum in München verorten. Dabei ist sie schon seit Jahren im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, wo sie unbegreiflicherweise im Kontext mit Hitlers „Wunderwaffe“, der A4/V2, gezeigt wird.

Springer Praxis Books – INTERKOSMOS – The Eastern Bloc`s  Early Space Program von Colin Burgess und Bert Vis, ISBN 978-3-319-24161-0 oder ISBN 978-3-319-24163-0 (eBook)

Gerhard Kowalski

 

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